Maurice
Schuhmann
Anarchistische
Revue aus Frankreich zwischen Akademie und Bewegung
Réfractions
– recherches et expressions anarchistes
Die
französischsprachige A-Presse ist um einiges reichhaltiger als die
deutschsprachige, die nach dem Einstellen der Espero
und der Umstellung der direkten
aktion
von Print auf Online kaum mehr als fünf Printorgane vorweisen kann.
Unter den französischen Publikationen nimmt die Réfractions
eine Sonderstellung ein. Sie erscheint seit nun mehr fast 20 Jahren
als Halbjahresschrift und bietet eine
wichtige
Diskussionsplattform für die Bewegung.
Der
Name mag etwas verwundern. Réfraction
ist ein physikalischer Terminus und beschreibt die
Brechung einer Welle.
Das Herausgeberinnenkollektiv leitet den Titel aus
dem Lateinischen ab
–
von refractum oder refingere.
Es
ist auch ein Synonym für briser (= brechen / zerstören).
Der
Titel erinnert auch an die 1881
erstmalig publizierte Sammlung
Les
Réfractaires
(dt.: Die Abtrünnigen, Nautilus
/ Nemo
Press Hamburg
1980)
des sozialistischen Schriftstellers und Kommunarden Jules
Vallès,
obwohl
sich das Kollektiv nicht explizit auf ihn beruft.
Im
Jahr 1997 erschien die Debütnummer zum Thema Libertés
imaginées
(=
Vorgestellte Freiheiten). Im Editorial begründete das damalige
Kollektiv die Gründung der Revue mit dem Wunsch, eine Revue mit
kritischer Reflexion zu erstellen. Gerade auch vor dem Hintergrund
der
Überlegung, anarchistische Theorie stärker zu fundieren und
aktuelle Fragen analytisch anzugehen.
Vorausgegangen
war dem eine sehr fruchtbare anarchistische Konferenz in Grenoble.
Die
Ausgaben haben jeweils ein Schwerpunktthema (z.B. Anarchismus und
Surrealismus, das revolutionäre Subjekt, Ökologie),
dem sich im Schnitt sechs bis acht
Beiträge widmen. Daneben beinhaltet
sie aber auch auf den knapp 200 Seiten
z.T. Erstübersetzungen von
Klassikertexten aus anderen Sprachen (z.B. von Gustav
Landauers Artikeln) sowie Rezensionen von (englisch- / französisch-
/ italienisch- und spanischsprachigen)Zeitschriften und Büchern.
Die
Autorinnen – darunter auch erfreulich viele Frauen im Gegensatz zu
unseren deutschsprachigen Publikationen – kommen sowohl aus der
Wissenschaft als auch aus der Bewegung. Unter den wissenschaftlichen
Beiträgerinnen finden sich u.a. die Soziologin Anne Steiner
(Université
Paris X) oder der Politikwissenschaftler Philippe Corcuff (IEP
Lyon). Alle Beiden haben wichtige Studien zum Anarchismus
publiziert. Des Weiteren gehört zu den regelmäßigen Autorinnen
auch Marianne Enckell vom Centre
International de Recherches sur l'Anarchisme / Lausanne
(CIRA) sowie der unabhängige
Forscher und Autor Daniel Colson. Die Aktivistinnen selber stammen
aus den unterschiedlichen Organisationen des französischen
Anarchismus – sei es aus der Fédération
Anarchiste (FA),
der anarchosyndikalistischen
CNT/F
oder der FA-Abspaltung Alternative
Libertaire.
Dank
dieser Vielschichtigkeit, die sich auch im Herausgeberinnenkollektiv
zeigt, ist
das abgebildete Spektrum des Anarchismus in der Revue auch relativ
breit und undogmatisch.
Das
Interessante an der Réfractions
ist, dass nicht nur klassische anarchistische Theorie reproduziert
wird, sondern auch neuere Entwicklungen – unter Rückgriff auf die
klassischen Grundlagen des Anarchismus – kritisch begleitet werden.
Die Artikel sind tiefgehend, aber dennoch in einer einfachen Sprache
gehalten, so dass die Barriere gering gehalten wird. Am ehesten läßt
sich wahrscheinlich der 2004 eingestellte Schwarze Faden mit
der Réfractions
vergleichen – vor allem vor dem Hintergrund, dass hier theoretische
Debatten geführt werden. Dies zeigt sich in den gewählten
Schwerpunktthemen, die sowohl aus dem politischen als auch dem
kulturellen Bereich stammen.
Die
Réfractions
bietet für Menschen, die des Französischen mächtig sind, eine sehr
interessante und erhellende Lektüre. Einzelne Aspekte sind dabei
sicherlich länderspezifisch i.S. der Verortung im französischen
Diskurs, aber dennoch lesenswert. Ein deutschsprachiges Äquivalent
zu jener Revue wäre wünschenswert. Die derzeit existierenden
Zeitschriften im Bereich Anarchismusforschung sei es Ne Znam,
Tsveyfl oder das Syfo
aber auch die
Graswurzelrevolution haben
alle eine andere Ausrichtung bzw. fehlt ihnen jener Brückenschlag,
den die Réfractions
hinbekommt.
Die
aktuelle Ausgabe der Réfractions
(# 39) widmet sich dem Thema „Repenser les oppressions“ (=
Unterdrückung überdenken), d.h. es geht dabei vorrangig um das
Thema Intersektionalität. Die kommende Ausgabe wird sich dem Thema
Postkolonialismus widmen. Die aktuelle Ausgabe als auch die
Backausgaben lassen sich bequem über die Website bestellen.
Réfractions
– recherches et expressions anarchistes
Preis pro Ausgabe: 15
€ (+ Porto)
Kontakt
/ Bestellmöglichkeit:
les
Amis de Réfractions, c/o Librairie Publico 145, rue Amelot 75011
Paris
https://refractions.plusloin.org
(lediglich
auf Französisch)